Die BI „Keine Dietwegtrasse" vor dem Gemeinderat

Redetext zur Anhörung der Bürgerinitiative

„Keine Dietwegtrasse“ im Reutlinger Gemeinderat

am 24.05.2022

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Sehr geehrte Anwesende, zunächst möchten wir uns bedanken für die Gelegenheit, hier sprechen zu dürfen. Unser Dank gilt insbesondere Ihnen, Herr Oberbürgermeister, für den Vorschlag der Bürgeranhörung, und natürlich Ihnen, sehr geehrte Gemeinderätinnen und Gemeinderäte, denn Sie haben diesen Vorschlag mehrheitlich befürwortet.

Beginnen wir mit einer kurzen Historie und Einordnung der Dietwegtrasse. Bereits im Reutlinger Verwaltungsbericht 1971 ist die Dietwegtrasse aufgeführt – gemeinsam mit einem geplanten Autobahnkreuz im Nordraum und einem aufgeständerten vierspurigen Knoten an der Lindach- und Lederstraße. Das waren die Visionen der damaligen Zeit!

Was bewegte die Reutlinger im Jahr 1971? Im Fokus stand die Verbesserung der Lebensverhältnisse, Wohlstand für alle und Wachstum. Im Verkehrssektor wurde alles dem Individualverkehr untergeordnet, Schlagwort war die autogerechte Stadt. Sehr schnell wurde aber klar, dass die autogerechte Stadt keinesfalls eine sozial gerechte Stadt ist. Bereits damals formierte sich Widerstand gegen grenzen- und rücksichtsloses Wachstum auf Kosten der Lebensqualität. Auch damals war die Dietwegtrasse bereits umstritten – unsere Bürgerinitiative befindet sich mittlerweile in der dritten Generation!

Heute stehen wir hier in Reutlingen, aber auch in allen anderen Städten Deutschlands und weltweit, vor gewaltigen Herausforderungen. Die Frage ist: Wie können wir unseren Wohlstand angesichts der Klima- und Energiekrise erhalten und vor allem auch nachhaltig gestalten?

Klimawandel und Artensterben führen bereits jetzt dazu, dass sich die Lebensqualität verringert, wie die Extremwetterereignisse weltweit zeigen. Wir müssen davon ausgehen, dass es noch viel schlimmer kommen wird, wenn wir nicht die entsprechenden Maßnahmen ergreifen. Aber es gibt Hoffnung. Hoffnung deswegen, weil die Maßnahmen bekannt und umsetzbar sind.

Die Planungen der Vergangenheit waren nicht unbedingt falsch – sie orientierten sich am damaligen Kenntnisstand. Damals dachte man, dass der Neubau von Straßen dem Stau entgegenwirkt. Heute weiß man es besser, wie z.B. ein aktuelles Review des wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags zeigt. Es gibt keine einzige Studie, welche klar belegt, dass der Neubau von Straßen langfristig irgendeinen Nutzen hat. Der Ausbau des Straßennetzes führt nur zu kurzfristigen Entlastungen. Wir brauchen aber nachhaltige Lösungen!

Kommen wir zurück zur Dietwegtrasse: Bislang liegt nur eine einzige umfassende Studie zur Wirkung der Trasse vor. Diese wurde wohlgemerkt auf kommunaler Ebene angestoßen! Im Rahmen des Verkehrsentwicklungsplans Reutlingen kamen die Gutachter 2012 zu dem Ergebnis: „Wegen der erheblichen Eingriffe und der überwiegend negativen verkehrlichen Wirkungen wird empfohlen, die Dietwegtrasse nicht weiter zu verfolgen“.

Diese Aussage hat immer noch Bestand. Verschärfend kommt nun das Ziel der Reutlinger Stadtverwaltung hinzu, bis zum Jahr 2040 klimaneutral zu werden. Wir werden in Zukunft die Nutzung von klimaschädlichen Verkehrsträgern einschränken müssen – und dürfen keinesfalls zusätzlichen Verkehr durch den Bau neuer Straßen generieren. Es liegt in Ihrer Verantwortung, meine Damen und Herren: Bitte stellen Sie alle Projekte, die den Klimazielen widersprechen, erneut auf den Prüfstand!

Nun zum aktuellen Sachstand der Planungen:
Seit Beginn der Planungen durch das Regierungspräsidium Tübingen (RP) gab es bisher nur eine öffentliche Veranstaltung zu dem Bundesstraßenprojekt: im Oktober 2019 hier in der Wittumhalle.

Am 12. Dezember 2019 gab es den „Scoping-Termin“ zur Umweltverträglichkeitsprüfung beim Regierungspräsidium. Bei der Anhörung der Träger öffentlicher Belange und der Naturschutzverbände haben auch drei Mitglieder unserer BI, für den BUND, unsere Anregungen und Bedenken vorgetragen.

Im März 2020 fanden in Reutlingen und Umgebung Verkehrserhebungen für das RP statt. Aus diesen soll eine aktuelle großräumige Verkehrsprognose erstellt werden. Diese Verkehrsprognose und die Ergebnisse aus den bisherigen Umweltuntersuchungen liegen bis heute nicht vor.

Aus den beiden genannten Terminen und einigen Pressestatements des Regierungspräsidiums ergibt sich folgender konkreter Planungsstand:

Der Trassenverlauf wird im Wesentlichen der sogenannten Anmeldetrasse aus dem BVWPL 2030 entsprechen. Regierungspräsident Tappeser äußerte sich auf GEA-Anfrage wie folgt: „… es gibt nur wenig Spielraum für eine Veränderung der Linienführung“.
Das heißt, es handelt sich weiterhin um die große, althergebrachte Lösung mit einer 300 m langen Hochbrücke vor Sondelfingen und dem Vollen Brunnen, mit einer langem Auffahrrampe im Gebiet „Auf Wies“! Dies mit drei großen Anschlussbauwerken an der Rommelbacher Straße, an der Roanner Straße/Auf Wies und im Laisen.

Die Finanzierung des ca. 770 m langen Deckels auf den Orscheläckern,
direkt neben dem Neubaugebiet Orschel-Hagen-Süd, durch die Bundesregierung ist keineswegs gesichert. Die Entscheidung fällt erst nach Vorliegen der durch das RP erstellten Verkehrsprognose! Es könnte also der Fall eintreten, dass die prognostizierten Immissionswerte nicht ausreichen, um den Deckel rechtlich verpflichtend zu machen. Dann wird ihn der Bund nicht bezahlen. Die Verwaltung und fast alle Fraktionen haben den Bürgern den Deckel aber immer zugesichert.
Sollte es an den letzten zwei Punkten irgendwelche Zweifel geben, so befragen Sie dazu bitte Herrn Dvorak, der persönlich beim Scoping-Termin anwesend war.
An dieser Stelle müssen wir einem Begriff aus den Planungen mit aller Deutlichkeit widersprechen! Bei dieser Trasse geht es nicht um eine „Umgehungstraße“! Hier soll eine neue Bundesstraße (mit LKW- Leitungsfunktion) mitten durch dichtbesiedeltes Stadtgebiet gebaut werden!

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Auf zwei wichtige Sachverhalte im direkten Umfeld der geplanten Trasse möchten wir Sie heute ausdrücklich hinweisen:

Der Bebauungsplan (B-Plan) für Orschel-Hagen-Süd geht von einer überdeckelten Dietwegtrasse aus! Welche Bau- und Lärmvorschriften im B-Plan für den Fall „ohne Deckel“ erlassen werden müssten, finden Sie in der „Schalltechnischen Untersuchung für den Bebauungsplan Orschel-Hagen Süd“.
Konkret bedeutet das: Es wird so laut, dass man nachts in Schlafzimmern, Kinderzimmern kein Fenster öffnen kann! Tagsüber wird der Aufenthalt in den Außenbereichen massiv durch die Lärm- und Abgasbelastung beeinträchtigt. Die Bauvorschriften für das Neubaugebiet werden im B-Plan festgelegt, ohne wirklich zu wissen, welche bauseitigen Lärmschutzmaßnahmen eigentlich getroffen werden müssten!

Reutlinger Naturschutzverbände haben bereits am 26. April 2021 die Stadtverwaltung auf mögliche Konflikte der Artenschutzausgleichsmaßnahmen für das B-Plan-Gebiet Orschel-Hagen-Süd in Bezug auf die geplante Bundesstraße hingewiesen. Ein Beispiel: die „Umsiedelung“ der Waldohreule in das Wäldchen in nur 500 m Abstand zur künftigen Trasse. Die Stadtverwaltung wollte diese Konflikte mit dem RP abstimmen, aber das RP verweigert Abstimmungen von Zwischenständen, was uns Frau Weiskopf erst vor kurzem nochmals explizit bestätigt hat. Erst wenn sämtliche Fachgutachten zur Trasse vorliegen, ist die Planungsbehörde gesprächsbereit. Wie mit dieser Haltung des RP die Stadt beim B-Planverfahren Orschel-Hagen Süd weiterkommt, ist uns unklar. Es besteht die Gefahr, dass die Innenentwicklung von Reutlingen blockiert wird - und über die Köpfe der Reutlinger hinweg geplant wird!

Was verlieren wir alle, wenn die Trasse gebaut wird?

Wir verlieren ein heute noch ruhiges, innerstädtisches Frischluftgebiet! Und dies mitten in den dichtest besiedelten Wohngebieten des Reutlinger Nordens. In einem Umkreis von 1000 m um die Trasse werden ca. 30.000 Einwohner neu mit Lärm- und Luftschadstoffen belastet! Trotz unseres Widerspruches im Scopingtermin will das RP bisher aber nur die Auswirkungen in einem 500-m-Umkreis betrachten. Auch hier leben noch über 10.000 Einwohner! Wie schädlich der Lärm für den Mensch ist, hat gerade die WIR-Fraktion in ihrem Antrag vom März zu Überarbeitung des Lärmaktionsplans sehr gut dargestellt.

Wir verlieren deutlich an Lebensqualität bei einer Vielzahl von „Alltagsfunktionen
Bei den Fußgängerverbindungen zwischen den Ortsteilen zur Schule, zum Einkaufen, zum Friedhof, etc.
Bei den vielgenutzten, schnellen, innerörtlichen Radwegeverbindungen

Wir verlieren einen großen Teil der wichtigen Erholungs- und Freizeitfunktionen des Gebietes!
Unsere Zählungen im Jahr 2020 haben gezeigt, dass das Gebiet täglich von 1.500 bis 2.000 Spaziergängern, Radfahrern, Sportlern, Hundehaltern, Gartenbesitzern aktiv genutzt wird. Gerade in der Corona-Zeit wurde sehr deutlich, wie wichtig diese Erholung im direkten Wohnumfeld für viele von uns ist.
Mit der der Klimakrise und der beginnenden Energiekrise wird es noch sehr viel wichtiger, ohne Auto erreichbare Gebiete der Naherholung zu haben und zu erhalten!
Folgende Einrichtungen befinden sich innerhalb eines Umkreises von 1000 m, die meisten davon liegen sogar im 500 m Abstandsbereich. über 10 Kindergärten mit ihren Außenanlagen

19 Kinderspielplätze

fünf Schulen mit ihren Außenanlagen

zwei Altersheime

vier Kirchengemeinden mit ihren Gemeindehäusern und Außenanlagen

der Aktivitätsspielplatz (AKTI)

mehr als 10 private und städtische Sporteinrichtungen

eine Vielzahl von Schrebergärtensieben Vereinsheime allein im Gewerbepark Orschel-Hagen

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Wir verlieren wichtige Ackerflächen
für die Ernährung und die Landwirte damit ihre Existenz. Ein ganz aktuelles Thema! Auch der Verlust an Schrebergärten für die Selbstversorgung muss erwähnt werden.

Wir verlieren wichtige Naturflächen!
Neben Büschen und Bäumen würde auch das Biotop „Feuchtkomplex Orscheläcker“ neben dem Akti vollständig verloren gehen!

Wir verlieren auch die Entlastungsfunktion des Achalmtunnels!
Der Achalmtunnel, der für 20.000 Einheiten/24 h gebaut wurde, wird heute oft schon von ca. 27.000 Fahrzeugen / 24 h genutzt. Wenn hier erst der erhebliche Mehrverkehr von der Dietwegtrasse dazukommt, wird das dazu führen, dass immer wieder mehr Verkehr den Weg über die Innenstadt nehmen wird!


Bei mehreren Veranstaltungen im Dietweg-Gebiet haben wir viele Rückmeldungen von den Nutzern erhalten. Nur ein Beispiel: „Der Dietweg ist mir wichtig, weil ich hier aufgewachsen bin. Hier habe ich die meiste Zeit meiner Jugend mit dem Fahrrad, dem Lenkdrachen, Fußball und meinen Freunden zugebracht. Das möchte ich für die zukünftigen Generationen erhalten!“

Wir möchten nun darlegen, welche Möglichkeiten Reutlingen hat, die Entwicklung in den von der Trasse betroffenen Gebieten positiv zu steuern. Es heißt ja oft, dass der Bund die Trasse plane und es deswegen auf kommunaler Ebene keinerlei Einflussmöglichkeiten gebe. Das stimmt so nicht. Auch kommunale Verwaltung und Gemeinderat haben einige Hebel in der Hand, die allerdings rechtzeitig betätigt werden müssen.

Aktuell laufen die Planungen für den landesweiten Biotop-Verbund. Die Lebensräume unserer heimischen Tierarten sollen besser vernetzt werden, denn die Artenvielfalt stellt die Lebensgrundlage für uns Menschen dar.

Das Land schreibt vor, dass 15% der Offenlandfläche bis 2030 zu einem Biotopverbund entwickelt werden soll. Wie die Karten der Landesanstalt für Umwelt Baden-Württemberg zeigen, könnte das Dietweg-Gebiet einen wertvollen Beitrag zum Biotopverbund leisten. Hier befinden sich auch Kernflächen, also Gebiete, die als wichtige „Lebensraum-Inseln“ für Säugetiere und Insekten dienen, darunter auch Streuobst-Flächen.

Es besteht aktuell die Gefahr, dass das Dietweg-Gebiet nur als Grünfläche ausgewiesen wird. Dann hätte die Stadtverwaltung nur noch wenig Einfluss auf die Gestaltung der Flächen. Wir wissen alle, dass der Bund sparen muss – das Regierungspräsidium als Planungsbehörde wird im Dietweg-Gebiet nur das Allernötigste tun und unter Umständen nicht einmal die Naherholungsfunktion erhalten. Wenn das Gebiet jedoch als Bestandteil des Biotopverbunds entwickelt wird, dürfte die Naherholungsfunktion sogar noch aufgewertet werden. Dies käme auch den Bewohnern der knapp 400 neuen Wohneinheiten im geplanten Baugebiet Orschel-Hagen Süd zugute.

Hand in Hand mit dem Thema Biotopverbund geht das Thema „Schutz ruhiger Gebiete“. Die EU-Umgebungslärmrichtlinie betont den Vorsorgegedanken: Ruhige Gebiete sollen vor einer Zunahme des Lärms geschützt werden.

Die Kommunen ziehen u.a. Grünflächen, Parks, Naturschutzgebiete und Landwirtschafts-flächen für ruhige Gebiete in Betracht. In Reutlingen wurden bislang im Rahmen des Lärmaktionsplans noch keine ruhigen Gebiete ausgewiesen, obwohl dies eigentlich verpflichtend ist. Das Dietweg-Gebiet erfüllt alle Kriterien.

Die Ausweisung des Dietweg-Gebiets als ruhiges Gebiet würde garantieren, dass das Regierungspräsidium bei den Planungen die höchstmöglichen Standards bezüglich des Lärmschutzes anwenden müsste. Ich verweise nochmals auf die Kassenlage des Bunds: Extras wie die Tieferlegung der Trasse im problematischen Lias Epsilon werden Herr Lindner und Herr Wissing nicht aus der Portokasse bezahlen können!

Meine Damen und Herren, Sie haben es in der Hand, ob Sie diese Hebel betätigen. Im Jahr 2019 wurde hier in der Wittumhalle ganzheitliche Planung und Rücksicht auf die Anwohner vor Ort versprochen. Bitte übernehmen Sie Verantwortung für die Reutlinger Bürgerinnen und Bürger, die von der Trasse betroffen sind.

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Wir bitten Sie alle darum, dass Sie sich sehr konkret für die Reutlinger Einwohnerinnen und Einwohner einsetzen und sich dabei folgenden Fragen stellen:

  • Was geht in Reutlingen alles verloren, wenn diese Straße gebaut wird?
  • Wie können Sie diesen Verlust verantworten?
  • Wollen Sie die Trasse überhaupt noch?
  • Wollen Sie die Trasse unter allen Umständen? Also auch mit Auffahrrampe, Hochbrücke und ohne Überdeckelung?
  • Wollen Sie die Trasse auch dann noch, wenn die Überdeckelung und deren Unterhalt ggf. von Ihnen als Kommune bezahlt werden müsste?

Wir möchten Sie bitten, sich dafür einzusetzen, dass alle möglichen Maßnahmen zum Schutz von Mensch und Natur, welche in der Verantwortung der Stadt und des Gemeinderates liegen, angestoßen werden.

Heute durften wir als Betroffene vor Ihnen sprechen. Gerne kommen wir erneut, mit einer ausführlicheren Präsentation als „sachkundige Personen“, in den Gemeinderat. Gerne kommen wir aber auch zu Ihnen in die Parteigremien. Bitte kommen Sie jederzeit auf uns zu.

Vielen Dank!



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